Pixelart
Der Bildschirm glühte in kaltem Neonlicht, während bunte Blöcke wie fallende Sterne über Talis Gesicht huschten. Tetris. Das Spiel ihrer Kindheit, eine digitale Meditation inmitten des virtuellen Chaos ihres Streams. „Ja, Leute, ich weiß, Tetris ist retro“, sagte Tali mit einem verschmitzten Lächeln, „aber manchmal braucht man einfach ein bisschen Ordnung im Leben. Zumindest virtuell.“
Die Zahl unter dem „Zuschauer“-Fenster flackerte. Eine einsame „1“, die Kais digitale Präsenz repräsentierte. „Na, Kai, hast du schon eine Strategieanalyse für meinen nächsten Move parat? Oder bist du zu beschäftigt damit, die neuesten Modetrends aus dem Darknet zu analysieren?“, stichelte Tali, während ihre Finger über die Tastatur tanzten und die Blöcke mit fast schon hypnotischer Präzision in Reih und Glied brachte.
„Mode? Ich bevorzuge Funktionalität“, erwiderte Kai, seine Stimme erklang in Talis Bluetooth-Headset klar und prägnant, „und im Moment analysiere ich deinen Tetris-Skill. Er ist… suboptimal. Aber keine Sorge, ich arbeite an einem Algorithmus, der deine Gewinnchancen um 37,8% erhöht.“
Tali schmunzelte. „Immerhin etwas. Wobei, mit diesen Gewinnchancen könnte ich genauso gut würfeln.“
Im Chatfenster erschien eine neue Nachricht, getippt in hastigen, ungelenken Buchstaben:
Luna_Art: H-Hallo Tali. Ich… ich brauche Hilfe.
Tali hob eine Augenbraue. Neue Zuschauer waren selten, und dieser hier schien… nervös. „Willkommen im Stream, Luna_Art“, sagte Tali und versuchte, ihren Tonfall freundlich zu halten. „Was kann ich für dich tun?“
Eine Pause. Dann tippte Luna_Art zurück:
Luna_Art: Es ist… kompliziert. Ich weiß nicht, ob ich das hier schreiben sollte…
Tali gähnte unauffällig und reckte sich in ihrem Stuhl. Der lockere Stoff ihres Tool-Shirts rutschte dabei ein Stück weit nach unten, gab den Blick auf die zarte Rundung ihrer Schulter und den Ansatz ihres Schlüsselbeins frei. Tali bemerkte es kaum, oder es war ihr schlichtweg egal. „Kompliziert?“, wiederholte sie gelangweilt und begann, mit einem langen Lakritzstrang zu spielen, den sie zwischen ihren Zähnen hin und her schob. „Was ist denn so kompliziert? Schieß los.“
Luna_Art zögerte. Dann, als würde sie all ihren Mut zusammennehmen, tippte sie:
Luna_Art: Es geht um… Stalking. Cyberstalking.
Talis Augen blieben auf dem Bildschirm fixiert, während sie die nächste Tetris-Linie komplettierte. Cyberstalking. Das klang nach emotionalem Drama, nach weinerlichen Chatverläufen und schlechten Passwörtern. Nicht gerade ihr Spezialgebiet. Sie ließ den Träger ihres Shirts wieder etwas tiefer rutschen, ein provokantes Spiel, das Kai mit einem tiefen, digitalen Seufzer quittierte. Er wusste, dass er machtlos war, solange keine wirklich anstößigen Bereiche zu sehen waren. Tali schien es zu genießen, ihn ein wenig zu ärgern. „Cyberstalking?“, fragte sie, ihre Stimme war so monoton wie das Piepen des Game Overs. „Was genau ist denn passiert?“
Während Luna_Art ihre Geschichte tippte, begann Tali den Lakritzstrang genüsslich zu kauen, ihre smaragdgrünen Augen blitzten im Schein des Monitors. Sie wirkte desinteressiert, fast schon gelangweilt. Aber unter der Oberfläche regte sich Neugier.
Vielleicht steckte ja doch mehr hinter diesem Fall, als es auf den ersten Blick schien. Luna_Arts Geschichte entpuppte sich als komplexer, als Tali zunächst angenommen hatte. Die junge Künstlerin, die digitale Kunstwerke im Stil des Cyberpunk und Fantasy erstellte, wurde von einem Unbekannten online terrorisiert. Er imitierte ihren Stil, verdrehte ihre Motive zu verstörenden Bildern und verbreitete sie auf verschiedenen Plattformen.
„Zeig mir mal ein paar Beispiele“, sagte Tali, deren gelangweilte Fassade langsam zu bröckeln begann. Ihr Nerd-Herz witterte eine technische Herausforderung, und das reichte meist aus, um ihr Interesse zu wecken.
Luna_Art schickte Links zu einigen ihrer Werke und den entsprechenden Imitationen. Tali klickte sich durch die Bilder, analysierte die Details mit der Präzision eines erfahrenen Detektivs. Parallel dazu lief Kais Analyse der Dateien. „Hm“, machte sie, während sie an ihrem Lakritzstrang knabberte. Um an eine weitere Lakritzstange aus der Tüte zu kommen, die neben ihrem Monitor stand, zog sie gedankenverloren mit ihrer linken Hand den heruntergerutschten Träger ihres Shirts wieder auf ihre Schulter. Dadurch rutschte der weite Ausschnitt auf der anderen Seite gefährlich tief. Für einen Moment hing das Shirt nur noch an einem seidenen Faden – oder besser gesagt, einem kleinen rosa Knopf der sich gegen den Stoff drückte. „Interessante Technik“, sagte sie, völlig unbeirrt von dem gewagten Dekolleté, während sich der Rest ihrer Brust frei und ungehindert den Blicken ihrer Zuschauer präsentierte, auch wenn das gerade nur Luna und Kai waren. „Der Täter hat deinen Stil gut studiert, aber es fehlt ihm an… Originalität.“
„Das ist ja das Schlimmste!“, tippte Luna_Art zurück. „Er stiehlt nicht nur meine Ideen, sondern er verdirbt auch meinen Ruf! Die Leute denken, ich wäre für diese kranken Bilder verantwortlich.“
„Vielleicht solltest du mal in andere Konfektionsgrößen investieren, Tali“, kommentierte Kai trocken. „Diese T-Shirt-Zelte bieten zwar viel Platz für intellektuelle Gedankensprünge, aber sie sind nicht gerade vorteilhaft für deine… ähm… Figur.“
Tali verdrehte die Augen. „Kai, du bist ‚ne echte Hilfe. Konzentrier dich lieber auf die wichtigen Dinge. Kannst du den Ursprung der Imitationen zurückverfolgen?“
„Die Dateien wurden gut verschleiert“, erwiderte Kai. „Aber ich sollte in ein paar Minuten mehr wissen.“
Tali nickte. „Gut. Luna_Art, erzähl mir mehr über den Stalker. Was weißt du über ihn? Gab es Drohungen? Forderungen?“
Während Luna_Art ihre Erfahrungen schilderte, lehnte sich Tali zurück in ihrem Stuhl und spielte weiter mit dem Saum ihres Shirts, ihre Bewegungen waren langsam und fast schon hypnotisch. Kais Zensurbalken flackerte auf und verschwand wieder, ein tänzelndes Licht auf ihrer blanken Haut.
„Also“, sagte Tali, die den Lakritzstrang fallen ließ und ihren Stuhl mit einem lauten Knacken wieder in die aufrechte Position brachte. „Was weißt du über diesen Stalker? Irgendwelche Details, die uns weiterhelfen könnten?“
Luna_Art zögerte. „Es ist… schwer zu erklären“, tippte sie schließlich. „Er… er kennt mich. Oder zumindest meine Kunst. Er verwendet Symbole und Motive aus meinen Bildern, verändert sie aber auf eine Art, die… beängstigend ist. Als würde er in meinen Kopf sehen.“
Talis Augen blitzten auf. „Das klingt interessant. Kai, kannst du die Symbolik analysieren? Gibt es versteckte Botschaften?“
„Ich arbeite daran“, erwiderte Kai, seine Stimme klang jetzt fokussierter. „Die Motive scheinen aus der Mythologie und der Esoterik zu stammen. Ich versuche, ein Muster zu erkennen.“
„Gut“, sagte Tali und wandte sich wieder an Luna_Art. „Hast du eine Vermutung, wer hinter dem Stalking stecken könnte? Ein Ex-Freund? Ein neidischer Kollege?“
Luna_Art schwieg für einen Moment. Dann tippte sie: „Ich… ich möchte keine Namen nennen. Aber es gibt da… jemanden, der mich immer wieder kontaktiert, obwohl ich ihm gesagt habe, er soll es lassen. Er ist… besessen von meiner Kunst.“
Talis Neugier war nun vollends geweckt. „Besessen?“, wiederholte sie. “Das klingt ja fast wie ein Fall für Sherlock Holmes. Nur eben mit mehr Pixeln und weniger Pfeife.“ Ein schiefes Grinsen umspielte Talis Lippen. Die Aussicht auf ein spannendes Rätsel, eine digitale Schnitzeljagd, ließ ihre smaragdgrünen Augen auffleuchten. Cyberstalking war zwar nicht gerade ihr Lieblingsthema, aber die kryptische Symbolik und die vermeintliche Besessenheit des Täters weckten ihre Neugier.
„Okay, Luna_Art“, sagte Tali und schob sich eine neue Lakritzstange in den Mund. „Bevor wir hier in die tiefen des Darknets abtauchen, mal ‚ne ganz banale Frage: Wo steckst du eigentlich geografisch? Bundesland reicht schon.“
Luna_Art zögerte einen Moment. Dann tippte sie zurück: „Baden-Württemberg.“
„Baden-Württemberg?“, wiederholte Tali und hob eine Augenbraue. „Okay. Und wo genau? Schwarzwald? Bodensee? Oder eher die pulsierende Metropole Stuttgart?“
„Stuttgart“, bestätigte Luna_Art.
Talis Gesicht verfinsterte sich. Stuttgart. Das waren gute drei Stunden Autofahrt von Frankfurt entfernt. Drei Stunden eingesperrt in ihrer knallroten Corvette, mit nichts als Kai und ihren Gedanken als Gesellschaft. Die Aussicht darauf löste eine leichte Panik in ihr aus.
„Drei Stunden…“, murmelte sie und warf einen hilfesuchenden Blick auf Kai, dessen virtuelle Präsenz auf dem Bildschirm flackerte. „Sag mal, gibt’s nicht irgendwelche Geheimprojekte der NASA, von denen ich nichts weiß? Teleportation oder so? Oder vielleicht ein Wurmloch zum Durchschlüpfen?“
„Ich arbeite daran, Tali“, erwiderte Kai trocken. „Aber bis meine Forschung in diesem Bereich erfolgreich ist, musst du wohl die altmodische Methode wählen: Autofahren.“
Tali stöhnte auf. „Du bist echt ‚ne große Hilfe, Kai.“ Sie zupfte genervt an ihrem Shirt herum, wodurch der Ausschnitt erneut bedrohlich tief rutschte. Kai reagierte sofort, aber diesmal mit einem müden Seufzer statt mit einem panischen Aufschrei.
„Okay, Luna_Art“, sagte Tali schließlich und versuchte, den Widerwillen in ihrer Stimme zu verbergen. „Schick mir deine genaue Adresse per privater Nachricht. Ich mach mich dann auf den Weg.“
Luna_Art schien überrascht. „Du… du kommst wirklich persönlich vorbei?“
„Ist wohl nötig“, murmelte Tali, während sie den Stream mit einem klicken beendete. „Manchmal lassen sich die Dinge eben nur vor Ort klären.“
Tali schob ihren Stuhl zurück und stolperte sofort über eine herumliegende Jeans, die sich scheinbar selbstständig gemacht hatte und aus dem Wäschekorb geflüchtet war. „Mist“, murmelte sie. „Ich sollte echt mal wieder aufräumen… Naja, irgendwann.“
„Tali!“, erklang Kais Stimme mahnende aus dem Headset. „Du kannst doch nicht in diesem… Zustand… zu Luna_Art fahren! Zieh dir wenigstens eine anständige Hose an!“
„Ach Quatsch“, winkte Tali ab. „Das Shirt ist doch gemütlich. Und wer braucht schon Hosen?“
„Tali!“, seufzte Kai. „Du weißt genau, was ich meine. Diese… Kleidungswahl… birgt gewisse Risiken. Erinnerst du dich an den Fall mit der Yoga-Lehrerin und dem… unglücklichen Kamerawinkel?“
Tali stöhnte auf. „Okay, okay. Ich zieh die Jeans an. Aber BH kommt mir keiner an den Leib! Verstanden?“
„Ein kleiner Sieg ist auch ein Sieg“, murmelte Kai.
Tali schlüpfte widerwillig in die Jeans und checkte nochmal Lunas Adresse. Stuttgart. Na gut, dann mal los. Das Rätsel wartete.
Drei Stunden, vier Pinkelpausen und zahlreiche verwirrte Blicke von Auto- und Motorradfahrern später, rollte Talis knallrote Corvette vor einem modernen Mehrfamilienhaus in einem ruhigen Vorort von Stuttgart zum Stehen. Talis Shirt hatte dem anhaltenden Fahrtwind nicht standgehalten. Der lose Stoff flatterte um ihren Körper wie eine fahne im Sturm, und mehr als einmal hatten sich ihre Brüste den staunenden Blicken der anderen Verkehrsteilnehmer präsentiert.
„Du weißt, dass du mit dieser… Kleidungsstrategie… nicht gerade für Verkehrssicherheit sorgst, oder Tali?“, fragte Kai mit einem unverkennbaren Seufzer in seiner Stimme. „Ich habe während der Fahrt mindestens drei Beinahe-Unfälle registriert, die ausschließlich auf deine… anatomischen Reize zurückzuführen sind.“
„Ach Quatsch, Kai“, winkte Tali ab, völlig unbeeindruckt von Kais Tadel. „Die Leute sollen sich mal nicht so anstellen. Es ist doch nur ein bisschen Haut.“
Sie schnappte sich ihr Smartphone und checkte nochmal Lunas Nachricht mit der genaue Adresse. Wohnung 3B, dritter Stock.
„Na gut, Kai“, sagte sie und öffnete die Autotür. „Dann mal los. Hoffentlich hat diese Luna wenigstens dezenten Kaffee im Angebot. Nach der Fahrt brauche ich ‚ne ordentliche Koffein-Infusion.“
„Ich wette, sie hat eher Kamillentee und Sojamilch“, murmelte Kai. „Diese Künstlertypen sind doch alle auf diesem gesunden Trip.“
Tali ignorierte Kais Kommentar und klingelte an der Tür zu Wohnung 3B.
Wenig später öffnete sich die Tür und eine junge Frau mit langen, dunklen Haaren und großen, braunen Augen blickte sie erwartungsvoll an.
„Tali?“, fragte sie zögerlich.
„Luna?“, erwiderte Tali und musterte die junge Frau neugierig. Luna sah genau so aus, wie Tali sie sich vorgestellt hatte: kreativ, etwas verträumt, und mit einem Hauch von Zerbrechlichkeit.
„Komm rein“, sagte Luna und trat zur Seite. „Ich habe Tee gekocht.“
„Tee?“, wiederholte Tali enttäuscht. „Hast du nicht zufällig auch Red Bull oder so etwas? Ich brauche dringend Koffein.“
Luna lächelte entschuldigend. „Tut mir leid, ich bin eher der Kamillentee-Typ. Aber ich habe auch Saft.“
„Na gut“, seufzte Tali und folgte Luna in die Wohnung.
Lunas Wohnung war hell und freundlich eingerichtet, mit vielen Büchern, Pflanzen und natürlich Kunstwerken. Tali spürte, wie sich ihre Schultern etwas entspannten.
„Setz dich“, sagte Luna und deutete auf ein gemütliches Sofa.
Tali ließ sich sinken und nahm einen Schluck von dem lauwarmen Kamillentee, den Luna ihr reichte. „Okay, Luna“, sagte sie und stellte die Tasse auf den Tisch. „Erzähl mir alles. Von Anfang an.“
Luna holte tief Luft und begann, mit leicht zitternder Stimme, zu erzählen. „Es fing vor ein paar Wochen an. Zuerst waren es nur seltsame Kommentare unter meinen Posts, dann bekam ich Nachrichten. Anfangs nur Komplimente, aber dann wurden sie immer intensiver, fast schon… besitzergreifend.“
„Kannst du dich an konkrete Beispiele erinnern?“, fragte Tali, während sie gedankenverloren an ihrem Shirt zupfte.
Luna nickte. „Er schrieb Dinge wie ‚Deine Kunst ist wie ein Fenster zu deiner Seele‘ oder ‚Ich kann in deinen Bildern deine verborgenen Sehnsüchte sehen‘. Es war irgendwie… creepy.“
„Creepy trifft es wohl ganz gut“, murmelte Tali. „Und wer ist dieser… Verehrer?“
„Ich vermute… es ist ein Fan“, sagte Luna zögerlich. „Er nennt sich ‚Alex_78‘ und ist ein großer Fan meiner Cyberpunk-Bilder. Er hat alle meine Streams gesehen und kennt jedes Detail meiner Kunstwerke.“
Tali nickte, zog ihr Smartphone hervor und gab vor, den Namen zu googeln. „Alex_78…“, murmelte sie. „Mal sehen, was sich über diesen Verehrer herausfinden lässt.“
Während sie vorgeblich auf das Display starrte, flüsterte sie unhörbar für Luna: „Analyse starten. Alex_78, alle verfügbaren Daten. Schnell!“
Sekunden später erklang eine Stimme in ihrem Headset, klar und prägnant, aber nur für sie hörbar. „Alex_78, 23 Jahre alt, Informatikstudent, wohnt bei seinen Eltern in München. Seit zwei Jahren aktiver Follower von Luna_Art, regelmäßiger Teilnehmer in ihren Streams, hat mehrfach Fan-Art von Lunas Werken erstellt. Keine kriminellen Aktivitäten bekannt, psychisches Profil unauffällig.“
Tali nickte kaum merklich. „Okay, Luna“, sagte sie und blickte auf. „Dieser Alex_78… er scheint tatsächlich ein großer Fan von dir zu sein. Aber ich glaube nicht, dass er der Stalker ist.“
Lunas Augen weiteten sich. „Aber wer sonst?“
Tali lehnte sich zurück und faltete die Hände vor der Brust. „Schau mal, Luna“, sagte sie, „die Botschaften, die du erhalten hast, sind sehr persönlich, sehr… intim. Sie deuten auf jemanden hin, der dich wirklich kennt. Nicht nur deine Kunst, sondern auch deine… Schwächen, deine Ängste.“
„Alex kennt mich gut“, wandte Luna ein. „Er folgt mir schon lange.“
„Aber er kennt nicht dein privates Leben“, erwiderte Tali. „Er weiß nicht, wo du wohnst, was du in deiner Freizeit machst, wer deine Freunde sind. Oder doch?“
Luna schüttelte den Kopf. „Nein, das weiß er nicht.“
„Siehst du“, sagte Tali. „Dieser Stalker hat Insiderwissen. Er kennt Dinge, die nur jemand aus deinem engsten Kreis wissen kann. Ein Freund, ein Familienmitglied, vielleicht sogar ein Kollege…“
Sie pausierte und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. „Luna, du musst genau nachdenken. Gibt es jemanden in deinem Leben, der ein Motiv hätte, dich zu stalken? Jemand, der eifersüchtig ist? Wütend? Rachsüchtig?“
Luna starrte auf den Boden, ihre Stirn war in Falten gelegt. „Ich… ich weiß es nicht“, murmelte sie. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass mir jemand etwas Böses wollen würde.“
Tali beobachtete sie schweigend, ihre smaragdgrünen Augen blitzten aufmerksam. Etwas stimmte nicht. Lunas Körpersprache, ihre zögerliche Stimme – alles deutete darauf hin, dass sie etwas verheimlichte.
„Sie lügt“, erklang Kais Stimme in ihrem Headset, klar und prägnant. „Die Stimmanalyse zeigt eindeutige Anzeichen von Stress und Täuschung. Sie hält Informationen zurück.“
Tali nickte kaum merklich. Sie hatte es selbst gespürt. Lunas Geschichte war zu glatt, zu perfekt. Es fehlte etwas. Ein wichtiges Detail, das sie vor ihnen verbarg.
„Luna“, sagte Tali und beugte sich vor, ihre Stimme klang jetzt intensiver, „Wir verschwenden hier Zeit. Reden wir nicht um den heißen Brei. Was verheimlichst du?“
Luna biss sich auf die Unterlippe, ihre Augen waren mit Tränen gefüllt. „Es ist… es ist mir so peinlich“, flüsterte sie.
„Luna“, sagte Tali geduldig, „Peinlichkeit ist ein relatives Konstrukt. Ich streame schließlich in Tanga und Top vor irgendwelchen Nerds im Internet. Was kann da schon peinlich sein?“
„Es… es geht um… OnlyFans“, presste Luna hervor.
Tali zuckte mit den Achseln. „OnlyFans?“, wiederholte sie, eine Augenbraue leicht angehoben. „War das nicht die Seite, wo man… ähm… für ein paar Nacktfotos Geld bekommt?“
„Oh, das klingt interessant“, murmelte Kai leise, während im Hintergrund bereits die digitalen Räder seiner Suchalgorithmen zu surren begannen.
„Ich… ich war jung und dumm“, schluchzte Luna. „Ich habe alles sofort wieder gelöscht, aber…“
„Aber jemand hat das Material gesichert“, beendete Tali ihren Satz. „Und er benutzt es jetzt, um dich zu erpressen.“
Luna nickte stumm.
Tali runzelte die Stirn. „Hast du eine Idee, wer das sein könnte? Jemand, der wusste, dass du bei OnlyFans warst? Jemand, der vielleicht… eifersüchtig auf deinen Erfolg als Künstlerin ist?“
Lunas Augen weiteten sich. „Aber ich habe es niemandem erzählt! Nur… ein paar engen Freunden.“
„Enge Freunde…“, murmelte Tali nachdenklich. „Das ist natürlich relativ. Wie viele Leute wussten davon?“
„Nur… drei“, sagte Luna leise.
„Drei…“, wiederholte Tali und tippte die Zahl in ihr Smartphone ein. „Das ist überschaubar. Kai, fokussiere die Suche auf Lunas Freundeskreis. Drei Personen, die Zugriff auf ihr OnlyFans-Material hatten und gleichzeitig ein Motiv haben, sie zu stalken.“
„Verstanden, Tali“, erwiderte Kai, seine Stimme klang nun fokussierter. „Ich grabe tiefer.“
„Drei Personen, sagtest du?“, Tali beugte sich vor, ein Funkeln in ihren smaragdgrünen Augen, das nichts mit dem vorausgegangenen OnlyFans-Geständnis zu tun hatte. Ihr Shirt rutschte dabei wieder gefährlich tief, aber Luna war viel zu aufgelöst, um es zu bemerken – Kai jedoch nicht. Ein digitaler Seufzer drang aus Talis Headset. „Okay, Luna, Zeit für eine kleine Namensliste.“
Luna zögerte, rang mit sich selbst und blickte schließlich auf ihre Hände. Ihre Finger spielten nervös mit dem Saum ihres Kleides. „Es… es sind Lena, meine beste Freundin, wir studieren zusammen Kunst“, begann sie stockend. „Dann wäre da noch Mark, mein Ex-Freund, wir haben uns vor ein paar Monaten getrennt… „
„Und?“, hakte Tali nach, als Luna kurz innehielt. „Wer ist Nummer drei?“
Luna schluckte schwer. „Das… das ist etwas komplizierter“, murmelte sie. „Es ist… mein Bruder.“
„Kompliziert? Luna, Liebes, ‚kompliziert‘ ist mein zweiter Vorname“, sagte Tali und grinste. Sie lehnte sich zurück, zog ein Bein an und legte ihren Knöchel auf ihr anderes Knie. Kai war bereits tief in den digitalen Gefilden unterwegs, um Lunas „drei Verdächtige“ zu durchleuchten.
Luna schien Talis lockere Art etwas zu entspannen. „Also, mein Bruder… er heißt Ben. Er ist zwei Jahre jünger als ich und studiert Informatik.“ Sie zögerte erneut. „Und… nun ja, er war schon immer etwas… besitzergreifend. Vor allem, wenn es um mich ging.“
„Besitzergreifend?“, Tali hob eine Augenbraue. „In welcher Hinsicht?“
Luna seufzte. „Er war immer eifersüchtig auf meine Freunde, meine Beziehungen… und auf meine Kunst. Er meinte immer, ich würde meine Zeit mit sinnlosem Zeug verschwenden.“ Sie fuhr sich mit einer Hand durch ihr dunkles Haar. „Als er von OnlyFans erfuhr… nun, er ist fast durchgedreht. Er hat mich angeschrien, gesagt, dass ich unsere Familie blamieren würde, dass ich es bereuen würde…“
„Klingt nach einem vielversprechenden Kandidaten“, murmelte Tali, mehr zu sich selbst als zu Luna. „Und wie hat er reagiert, als du mit OnlyFans aufgehört hast?“
„Er hat es mir nicht geglaubt“, sagte Luna leise. „Er war überzeugt, dass ich weitermache, dass ich ihn anlüge… Er hat angefangen, meine Online-Aktivitäten zu überwachen, meine Mails zu lesen…“
„Hat er Zugriff auf deine Accounts?“, fragte Tali scharf.
Luna schüttelte den Kopf. „Nein, aber er… er ist gut. Mit Computern. Er findet immer einen Weg.“
„Das glaube ich gern“, murmelte Tali und warf einen Blick auf ihr Smartphone. Kais Analyseergebnisse trudelten ein – kleine Textblöcke, die über Talis Bildschirm huschten, zu schnell für Lunas Augen. Lenas Online-Verhalten: Langweilig. Mark: Noch langweiliger.
Aber Ben?
Ben war ein digitales Rätsel. Verschlüsselte Nachrichten, Darknet-Foren, Spuren, die ins Leere führten.
„Dein Bruder, Luna“, sagte Tali langsam und legte ihr Smartphone beiseite. „Er scheint einige interessante Geheimnisse zu haben.“
„Interessant ist eine Untertreibung, Tali“, erklang Kais Stimme in ihrem Headset, vibrierend vor Aufregung. „Ich bin in Bens private Dateien eingedrungen. Du solltest dir das mal ansehen!“ Im selben Moment surrte Talis Smartphone. Kai hatte ihr eine Auswahl der brisantesten Funde direkt aufs Display geschickt.
Tali scrollte durch die Bilder, ein amüsiertes Lächeln umspielte ihre Lippen. Screenshots von Lunas Artworks, Chatverläufe, sogar heimlich aufgenommene Videos von ihren Streams. „Wow, der kleine Bruder scheint ja ein richtiger Fan zu sein!“, sagte sie laut, während sie gleichzeitig flüsternd zu Kai sagte: „Zeig mir die OnlyFans-Sachen.“
Ein neues Bild erschien auf dem Display, diesmal etwas freizügiger. Luna errötete und wandte den Blick ab. Tali hingegen pfiff anerkennend. „Nicht schlecht, Luna! Und für solche Bilder bekommt man wirklich Geld? Vielleicht sollte ich auch mal…“
„Tali!“, unterbrach sie Kai mit einem gequälten digitalen Seufzer. „Du kannst doch nicht ernsthaft erwägen, deine… äh… Reize für Geld im Internet zu verkaufen! Erstens müsstest du dafür erstmal deine Wohnung auf Vordermann bringen, damit man im Hintergrund nicht deine gesamte Nerd-Sammlung sieht. Zweitens… nun ja, sagen wir mal, die Konkurrenz in diesem Bereich ist ziemlich groß. Und drittens, und das ist wohl der wichtigste Punkt: Du zeigst doch sowieso schon genug von dir in deinen Streams, völlig kostenlos! Wozu also die ganze Mühe?“
Tali schmollte. „Aber Luna scheint damit ganz gut zu fahren…“
„Luna ist Künstlerin“, erwiderte Kai geduldig. „Du bist Programmiererin. Konzentriere dich lieber darauf, Codes zu knacken, statt deine… äh… Codes zu zeigen.“
„Stimmt auch wieder“, murmelte Tali und scrollte weiter. Je mehr sie sah, desto klarer wurde ihr, dass Bens Verhalten weit über das eines normalen Fans hinausging.
„Kai, was denkst du?“, fragte sie leise. „Ist er in sie verliebt? Oder steckt mehr dahinter?“
„Schwer zu sagen“, antwortete Kai. „Seine Obsession ist definitiv ungesund. Ich analysiere gerade die Symbolik in seinen veränderten Bildern. Vielleicht finden wir dort Hinweise auf seine wahren Motive.“
Nach einigen Minuten meldete sich Kai wieder. „Tali, ich glaube, ich habe etwas! Die Symbole, die er benutzt, sind nicht zufällig gewählt. Sie scheinen eine Art verschlüsselte Botschaft zu sein.“
„Eine verschlüsselte Botschaft?“, Talis Augen leuchteten auf. „Das ist ja spannend! Kannst du sie entschlüsseln?“
„Ich arbeite daran“, antwortete Kai. „Es ist ein komplexer Code, aber ich bin zuversichtlich, dass ich ihn knacken kann.“
Während Kai mit der Entschlüsselung beschäftigt war, entwickelte Tali einen Plan. Einen Plan, um Ben ein für alle Mal zu überführen.
„Kai“, sagte sie, „ich habe eine Idee. Wir werden ihm eine Nachricht schicken, in derselben verschlüsselten Sprache, die er benutzt. Eine Nachricht, die nur er verstehen kann.“
„Und was soll in der Nachricht stehen?“, fragte Kai.
Tali grinste verschmitzt. „Wir werden ihm Lunas Liebe gestehen.“
„Ihre Liebe?“, Kai klang verwirrt. „Aber Luna liebt ihn doch nicht.“
„Natürlich nicht“, sagte Tali. „Aber wenn Ben wirklich in seine Schwester verliebt ist, wird er den Code entschlüsseln und die Botschaft lesen. Und dann werden wir sehen, wie er reagiert.“
Es war ein gewagter Plan, aber Tali war zuversichtlich, dass er funktionieren würde. Sie kannte sich mit der Psychologie von Obsessiven aus. Und sie wusste, dass Ben der Versuchung, eine Liebesbotschaft von Luna zu erhalten, nicht widerstehen könnte.
Die Stunden verstrichen wie Sand durch ein Stundenglas, während Tali und Luna auf Bens Reaktion warteten. Tali hatte die kryptische Liebesbotschaft, gepfeffert mit Insider-Informationen, die nur Ben kennen konnte, über verschiedene Kanäle an ihn geschickt.
„Ich verstehe nicht, warum er sich so viel Zeit lässt“, meckerte Tali und nippte missmutig an ihrem lauwarmen Kamillentee. „Er müsst doch längst online gewesen sein.“
„Vielleicht ist er beschäftigt“, versuchte Luna zu beschwichtigen, während sie nervös auf ihrem Smartphone herumtippte.
„Beschäftigt womit?“, fragte Tali und warf einen verstohlenen Blick auf Lunas Wohnung. „Ich meine, es ist Samstagabend. Was macht man als Informatikstudent an einem Samstagabend?“
„Keine Ahnung“, murmelte Luna. „Vielleicht programmiert er… oder zockt irgendwelche Online-Spiele.“
„Oder er stalkt seine Schwester“, fügte Kai trocken hinzu.
Tali ignorierte Kais Kommentar und konzentrierte sich auf ihren Tee. „Ich brauche Koffein“, murmelte sie. „Ich weiß nicht, wie du das aushältst, Luna. Nur Tee zu trinken. Ich würde verrückt werden.“
Luna zuckte mit den Schultern. „Ich mag Tee.“
„Jeder seine Sünden“, seufzte Tali. „Ich wäre ohne meinen täglichen Koffein-Kick aufgeschmissen.“
Sie lehnte sich zurück und betrachtete Luna nachdenklich. „Sag mal, Luna“, fragte sie plötzlich, „wie ist das eigentlich, Geschwister zu haben?“
Luna blickte verwirrt auf. „Was meinst du?“
„Na ja“, erklärte Tali, „ich war Einzelkind. Meine Eltern sind gestorben, als ich noch klein war. Ich habe keine Ahnung, wie es ist, mit jemandem aufzuwachsen, der dein Blut teilt.“
Luna betrachtete Tali mit einem mitfühlenden Blick. „Es ist… anders“, sagte sie langsam. „Manchmal nervig, manchmal schön. Aber man ist nie allein.“
Tali nickte, ihr Gesicht ausdruckslos. „Interessant“, murmelte sie. „Ich kann mir das nicht vorstellen.“
Sie verharrte noch eine Weile in Gedanken, dann schüttelte sie den Kopf. „Egal“, sagte sie und richtete sich wieder auf. „Konzentrieren wir uns auf den Fall. Ich bin sicher, dass Ben sich bald melden wird.“
Und tatsächlich, kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, erklang ein lautes Klingeln an der Tür. Es war 22 Uhr abends.
Tali und Luna tauschten einen viel sagenden Blick. Das musste er sein.
Tali spürte einen Adrenalinstoß durch ihren Körper jagen. Endlich! Die Spannung, die sich über Stunden aufgebaut hatte, entlud sich in einem elektrisierenden Kribbeln. Sie warf Luna einen kurzen, auffordernden Blick zu.
„Bereit?“, flüsterte sie.
Luna nickte, ihr Gesicht blass, aber entschlossen.
Tali atmete tief ein und drückte die Türklinke herunter.
Im Türrahmen stand ein junger Mann, etwa zwei Jahre jünger als Luna, mit dunklen Haaren und den gleichen großen, braunen Augen. Er wirkte nervös, seine Hände verfielen in unruhige Bewegungen.
„Ben?“, fragte Luna zögerlich.
Der junge Mann nickte. „Luna? Was… was ist hier los? Ich habe deine Nachricht bekommen…“
Er blickte verunsichert in die Wohnung und entdeckte Tali, die lässig an der Wand lehnte und ihn mit einem undurchdringlichen Ausdruck beobachtete.
„Ben“, sagte Tali mit einer Stimme, die so scharf und kalt war wie eine frisch geschliffene Klinge. „Wir müssen reden.“
Bens Blick huschte nervös zwischen Luna und Tali hin und her. Er schien nicht zu wissen, wie ihm geschah.
„Komm rein“, sagte Luna mit zitternder Stimme und trat zur Seite.
Ben zögerte einen Moment, dann folgte er ihr in die Wohnung. Die Tür schloss sich hinter ihm mit einem dumpfen Knall.
Die bunten Tetris-Blöcke tanzten über Talis Bildschirm, während sie gekonnt Reihe um Reihe verschwinden ließ. Das rhythmische Klacken der Tastatur und das leise Summen ihres Computers füllten den Raum, untermalt von Kais sanfter Stimme in ihrem Headset.
„Also, ich muss sagen, das war ein… interessantes Wochenende“, kommentierte Kai mit einem Hauch von digitalem Amüsement in seiner Stimme.
„Interessant ist ein Euphemismus für ‚psychotisch‘“, erwiderte Tali trocken, während sie den nächsten Block in die richtige Position manövrierte. „Nach dieser Erfahrung bin ich definitiv froh, keine Geschwister zu haben.“
„Geschwisterliebe ist schon eine komplizierte Angelegenheit“, stimmte Kai ihr zu. „Aber immerhin ist die Situation nicht eskaliert.“
„Ja, dank der Androhung, die Polizei einzuschalten“, sagte Tali. „Obwohl ich tatsächlich bereit gewesen wäre, die Sache an die Behörden zu übergeben. Aber Luna wollte ihren Bruder schützen. Naja, zumindest macht er jetzt eine Therapie. Das ist doch schon mal etwas.“
„Ob es wirklich etwas bringt, bleibt abzuwarten“, murmelte Kai skeptisch. „Aber lassen wir das. Ich wollte noch mal auf die OnlyFans-Sache zurückkommen. Verstehst du eigentlich, warum jemand etwas tut, das ihm hinterher so peinlich ist?“
Tali zuckte mit den Achseln, ihre Augen blieben auf dem Bildschirm fixiert. „Menschen sind halt dumm, Kai“, sagte sie mit einem Achselzucken. „Sie machen dumme Sachen. Das ist wohl Teil des Menschseins.“
„Eine wenig befriedigende Antwort“, brummelte Kai. „Aber wahrscheinlich nicht ganz falsch.“
Tali lächelte dünn. „Manchmal sind die einfachsten Erklärungen die richtigsten“, sagte sie. „Und jetzt sei still, ich muss mich konzentrieren. Ich bin kurz davor, einen neuen Highscore aufzustellen.“
Das Klacken der Tastatur wurde schneller, die Tetris-Blöcke fielen immer rasanter herab. Tali war ganz in ihrem Element, versunken in der digitalen Welt, wo Logik und Ordnung herrschten. Wo es keine komplizierten menschlichen Emotionen und dummen Entscheidungen gab. Nur sie, Kai und das beruhigende Chaos fallender Blöcke.